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Analyse Oktober 2016

Negativrenditen: Warum und für wie lange?

 

Sie verunsichern Konsumenten und Anleger. Sie gefährden die traditionelle Funktionsweise der Banken. Sie belasten die Wirtschaftstätigkeit und die Finanzmärkte. Und dennoch nimmt man sie in Kauf. Bestimmte Akteure der Wirtschaft haben keine andere Wahl, als sie zu akzeptieren. Es könnte jedoch sein, dass diese einmalige Situation in der Finanzgeschichte nur vorübergehend ist.

Die Negativzinsen schaffen eine sehr spezielle, ja sogar absurde Situation, die in der Wirtschafts- und Finanztheorie nicht vorgesehen ist. Der Homo oeconomicus handelt rational; er erwartet eine positive Rendite, wenn er investiert. So ist in 5000 Jahren Kreditgeschichte keine Spur von Negativzinsen zu finden. Heute scheint die Idee, dass das Geld «arbeitet», jedoch in Frage gestellt, obwohl sie auf einem soliden Fundament zu beruhen schien.

Die Zentralbanken wenden eine lockere Geldpolitik an, indem sie Einlagen mit einem Strafzins belegen und für niedrige Kreditkosten sorgen. So liegen die Leitzinsen der Bank of Japan und der EZB zurzeit im negativen Bereich (bei der EZB sind es -0,4%). Diese Politik ist darauf ausgerichtet, die Ausgaben in der Realwirtschaft anzukurbeln, die Inflation anzuheizen, die Wechselkurse abzuschwächen und die Exporte wettbewerbsfähiger zu machen. Im Weiteren wird erwartet, dass die Negativzinsen einen Umverteilungseffekt zwischen Gläubigern und Schuldnern bewirken.

Negative Renditen sind ebenfalls ein Zeichen für eine stagnierende Wirtschaft. Die von sozialen und demografischen Faktoren verursachte Stagnation führt zu einer Erosion der Produktivitätsgewinne, einem geringen Grenzertrag des Kapitals und Problemen, die über den Einflussbereich der Geldpolitik hinausgehen.

Eine lange Liste von Nachteilen

In diesem neuen Umfeld tobt eine erbitterte Debatte. Renommierte Ökonomen, Forscher und Bankiers üben Kritik an der Wirksamkeit der Negativzinsen und warnen vor den damit zusammenhängenden Gefahren. Könnte es sein, dass die Zentralbanken mit ihrer Politik vollkommen daneben liegen? Der Gedanke liegt nahe, denn die Liste der unerwünschten Auswirkungen ist lang. Obwohl es für Schlussfolgerungen noch zu früh ist, kann beispielsweise festgestellt werden, dass die Auswirkungen der Negativzinsen auf die globale Wirtschaft gering sind. Die Investitionstätigkeit der Unternehmen bleibt verhalten, während die finanzielle Instabilität aufgrund der Anfälligkeit der Banken zugenommen hat. Im Weiteren war bei der Vergabe von Bankkrediten an Privatpersonen in der Eurozone kein grösserer Anstieg zu verzeichnen, da das Angebot zuvor nicht beschränkt war.

Die Sparer, die auf traditionellen Anlagen praktisch keine Rendite mehr erzielen, stehen schlecht da. Die Funktionsweise der Banken, der Versicherer und der Pensionskassen ist bedroht. Die Zinsmargen, ein wichtiger Ertragsbestandteil der Retailbanken, sind unter Druck. Und als ob dies nicht ausreichen würde, sorgen die Negativzinsen bei Konsumenten und Anlegern für Beunruhigung. Diese ziehen es vor, kleine Verluste auf ihren Barbeständen in Kauf zu nehmen, als mit anderen Anlageklassen grössere Verluste zu riskieren.

Negativzinsen verbreiten sich wie eine echte Flutwelle

Und dennoch verbreiten sich die Negativrenditen wie eine Flutwelle. Finanzinstitute wie Pensionskassen und Versicherer müssen sich damit abfinden. Sie haben keine Wahl, da sie dazu verpflichtet sind, die Sicherheit ihrer Anlagen zu gewährleisten. Auch einige Privatanleger sind betroffen; sie erwarten noch tiefere Zinsen und eine Phase der Deflation.

Das Volumen der Staatsanleihen mit einer Negativrendite nimmt immer weiter zu. Es beläuft sich weltweit auf 13 Billionen Dollar; davon entfallen mehr als 8 Billionen auf den japanischen Markt (siehe Abb. 1) An der Spitze steht die Schweiz; die Renditekurve der Bundesanleihen liegt für sämtliche Laufzeiten unter null (Abb. 2), was darauf hinweist, dass die Anleger weiterhin mit negativen Zinsen rechnen.

Sind Negativzinsen langfristig tragbar oder handelt es sich nur um ein vorübergehendes Phänomen? Wir favorisieren die zweite Hypothese. Da keine überzeugenden Ergebnisse vorliegen, scheint es wahrscheinlich, dass die Staaten ihre Fixierung auf die Budgetdisziplin aufgeben und erneut eine expansive Politik zum Zug kommt, insbesondere in Europa und Japan. Das grössere Angebot von Staatsanleihen zur Finanzierung der öffentlichen Ausgaben dürfte die Zinsen so wieder ansteigen lassen.

Die praktische Frage, die sich jeder Anleger stellt, lautet somit: Wie kann eine minimale Rendite generiert werden, ohne ein übermässiges Risiko einzugehen? In diesem Umfeld sind Aktien von Unternehmen, die eine stabile Rendite ausschütten (u. a. Konsum- und Pharmawerte) attraktiv, zumal diese Gesellschaften ihre Titel zurückkaufen könnten, um die negative Rendite auf ihren Barbeständen zu umgehen.

Abb. 1 Staatsanleihenrenditen, Industrieländer

Abb. 1 Staatsanleihenrenditen, Industrieländer

Abb. 2 Anleihenrenditen nach Laufzeiten

Abb. 2 Anleihenrenditen nach Laufzeiten